Die Schweiz in Tolkiens
Mittelerde

Die Schweiz in Tolkiens Mittelerde

Auf den Spuren seiner abenteuerlichen Sommerreise im Jahr 1911

von M. S. Monsch

Suchen Sie nach Mittelerde in der realen Welt? J. R. R. Tolkiens Mittelerde lag nicht in Neuseeland, sondern in England und der Schweiz. Im Jahr 1911 begab er sich 19-jährig auf eine abenteuerliche Reise durch das Berner Oberland und das Wallis, schwer bepackt und über viele hohe Pässe. Und es war diese Wanderung, die ihn später maßgeblich für den Hobbit und den Herr der Ringe inspirieren wird, denn Tolkien war ein echter Hobbit, der kaum je reiste. 

Einige seiner Inspirationsquellen in der Schweiz erwähnte Tolkien selbst in seinen Briefen, aber eben nur einige. Auf seinen Spuren machte ich mich daher selbst auf in die spektakuläre Bergwelt, um nach seinen Inspirationsschätzen zu suchen; und nach und nach gelangte ich zur Überzeugung, dass er sich nicht nur von der Landschaft, sondern auch von den damit verbundenen Geschichten, Mythen und Legenden inspirieren ließ. Langsam offenbarte sich mir in diesen Berglandschaften eine lebendige und geheimnisvolle Welt – die Welt von Mittelerde. 

In diesem Buch möchte ich Sie auf diese Reise und Schatzsuche mitnehmen; und im Anhang finden Sie Wandervorschläge, damit Sie Mittelerde auf Tolkiens Spuren selbst erkunden können. Sie werden es nicht bereuen, denke ich. Für mich jedenfalls hat das Schreiben dieses Buches die Art und Weise, wie ich die Schweizer Berge betrachte, für immer verändert.

Vorwort

„Ich freue mich, dass Du die Schweiz kennengelernt hast, und zwar genau den Teil, den ich einst bestens kannte und der mich zutiefst geprägt hat. Die Reise des Hobbits (Bilbo) von Bruchtal auf die andere Seite des Nebelgebirges, einschließlich der Rutschpartie über die schlitternden Steine in die Nadelwälder, basiert auf meinen Abenteuern im Jahr 1911: dem Jahr des Sonnenscheins, in dem es zwischen April und Ende Oktober praktisch keinen Regen gab, außer am Vorabend und am Morgen der Krönung Georgs V. (Adfuit Omen [das war ein Omen]!).“ (J. R. R. Tolkien)

Mit diesen Worten begann J. R. R. Tolkien im Jahr 1967 einen Brief an seinen Sohn Michael.[1] Detailreich erzählte er ihm darin von der Schweizreise, die er als 19-Jähriger im Sommer 1911 vor dem Beginn seines Studiums in Oxford unternommen hatte. Beim Lesen des Briefes vergisst man schnell, dass die Geschehnisse 56 Jahre zurückliegen und Tolkien nun 75-jährig ist; ja, Bilbo war in die Jahre gekommen, doch dieses Abenteuer hatte sich tief in sein Gedächtnis eingeprägt. Zwar seien seine Erinnerungen nicht mehr klar in der Reihenfolge, meinte er, die Reise aber habe viele lebhafte Bilder hinterlassen „so klar wie gestern“ – dies sei so klar, wie die entfernteren Erinnerungen eines alten Mannes würden.

Abgesehen von einem allgemeinen Hinweis erwähnte Tolkien in diesem und noch einem weiteren Brief aus dem Jahr 1961[2] spezifische Orte und Ereignisse, die ihm als Inspirationsquellen dienten. Er selbst verknüpfte also Örtlichkeiten in Mittelerde mit konkreten Orten in der Schweiz. Auch erwähnte er, dass die Größe der Reisegruppe etwa jener im Hobbit entsprochen habe, und er bezeichnete gar ein Gruppenmitglied als „einen der Hobbits“. Aber die Menge an Informationen, die wir aus Tolkiens Briefen entnehmen können, ist begrenzt, und so hinterließ er uns ein Rätsel: War diese Reise lediglich eine vage Inspirationsquelle für Bilbos Überquerung des Nebelgebirges oder beschrieb Tolkien sowohl im Hobbit als auch im Herr der Ringe über große Teile hinweg jeweils autobiografisch seine eigene Reise durch die Schweiz? 

Der erste Schritt zur Lösung dieses Rätsels liegt in der Rekonstruktion von Tolkiens Reise, und hierfür gibt uns abgesehen von Tolkien dessen damaliger Reisegefährte Colin Brookes-Smith einige Hinweise in seinen unveröffentlichten Memoiren.[3] Die Reise begann vermutlich noch Ende Juli und dauerte mindestens bis Ende August, wahrscheinlich aber bis in den September. Der 26. Juli 1911 war Tolkiens letzter Schultag an der King Edward’s School, danach musste er ziemlich bald aufgebrochen sein – vielleicht Hals über Kopf wie im Hobbit.[4] Denn zwei Daten der Reise sind bekannt: Am Samstag, dem 5. August, unterzeichnete Tolkien das Gästebuch im Berggasthaus Obersteinberg im hintersten Lauterbrunnental, und am Freitag, dem 25. August, setzte er seinen Namen ins Gästebuch der Bertolhütte bei Arolla.[5] Dabei handelt es sich jedoch weder um den Anfang noch um das Ende der Reise: Angenommen, Tolkiens Gruppe reiste jeweils an den Wochenenden, dann verbrachte sie zumindest die Zeit zwischen dem 29/30. Juli und dem 2/3. Septembers in der Schweiz; doch eine spätere Rückkehr wäre ebenfalls denkbar.[6]

Hinsichtlich der Route gehe ich ausgehend von Tolkiens Briefen und Colin Brookes-Smiths Memoiren von dem in Abbildung 1 dargestellten Weg aus.[7] Der erste Teil der Reise bis zum Aletschgletscher sowie der Abstecher nach Zermatt stützen sich dabei auf Tolkiens Ausführungen, der zweite Teil der Reise bis nach Sion auf diejenigen von Colin Brookes-Smith, und auf einen allfälligen dritten Teil werde ich später zu sprechen kommen. Bemerkenswerterweise überschneiden sich die Reisebeschriebe von Tolkien und Brookes-Smith kaum, Tolkien meinte allerdings, dass seine Erinnerungen zur Reise durch das Wallis weniger klar seien, und seine Anwesenheit im Berghotel Obersteinberg sowie der Bertolhütte bei Arolla sind nun ja belegt. Ob Tolkien tatsächlich in Zermatt war, ist nicht restlos geklärt, da die von Brookes-Smith dargestellte Route nicht nach Zermatt führt und sich Tolkiens Erinnerungen dazu möglicherweise auf Arolla beziehen – aber mehr dazu später.

Betrachtet man diese Route, erscheint eines klar: Mindestens fünf Wochen waren dazu nötig. Allein Tolkiens Strecke von Interlaken nach Sion betrug über 250 km, und diese bewältigte die Gruppe ihm zufolge größtenteils zu Fuß und schwer bepackt.[8] Nicht eingerechnet sind da all die Touren, die die Gruppe von verschiedenen Orten aus unternahm, an denen sie länger verblieb, wie etwa Belalp und Arolla. Und noch viele weitere Kilometer musste die Gruppe zurücklegen, wenn sie, wie ich vermute, am Ende der Reise an den Thunersee zurückkehrte. Doch unabhängig davon war es ein Gewaltmarsch.

1 Tolkiens (vermutlicher) Weg durch die Schweiz; die durchgezogene Linie basiert auf den Ausführungen von Tolkien und Colin Brookes-Smith.

Mit dieser Karte ausgerüstet begab ich mich selbst auf Tolkiens Spuren auf eine Reise durch das Berner Oberland und das Wallis, um nach seinen Inspirationsquellen zu suchen. Es war eine Reise durch einige der spektakulärsten Teile der Alpen, und es war auch eine Schatzsuche – nach Tolkiens Schätzen der Inspiration. Ähnlich wie Bilbo scheint Tolkien in diesen Bergen etwas Kostbares gefunden zu haben, etwas, das ihn für den Rest seines Lebens in seinen Bann ziehen sollte. Und es scheint auch von mir Besitz ergriffen zu haben. Seien Sie also bitte gewarnt: Nicht jeder kann den visuellen Verlockungen der wunderbaren Landschaft widerstehen. 

Abgesehen von der durchwanderten Landschaft hielt ich Ausschau nach lokalen Sagen und Legenden sowie literarischen Werken anderer berühmter Reisender. Da Tolkien ein auf Mythologie spezialisierter Sprachprofessor war, vermutete ich, dass er nicht nur von der Geografie, sondern auch von den mit der Landschaft verbundenen Geschichten inspiriert worden sein könnte. Und diese Fundgrube erwies sich schnell ergiebiger als erwartet – oder gar erhofft.

Dadurch soll nicht der Eindruck entstehen, dass Mittelerde gänzlich auf der Schweiz beruht: Tolkien ließ sich von einer Fülle von Quellen inspirieren, etwa von seiner Heimat England, germanisch-nordischen und keltischen Sagen, der Geschichte des Verfalls des Römischen Reiches sowie den Romanen von William Morris und George MacDonald, um nur einige zu nennen. Dennoch stellte sich bei mir während meiner Nachforschungen zunehmend die Überzeugung ein, dass der Einfluss der Schweizreise immens war, und zwar nicht nur für die Geografie von Mittelerde und die Handlung im Hobbit, sondern auch für die Handlung in dessen Sequel[9], dem Herr der Ringe.

Ich gelangte zunehmend zur Überzeugung, dass Tolkien den Hobbit autobiografisch auf den ersten und dritten Teil seiner Schweizreise stützte, während er sich für den Herr der Ringe stark vom ersten und zweiten Teil inspirieren ließ. Das erlaubt mir, in diesem Buch gleichzeitig sowohl Tolkiens Weg durch die Schweiz als auch den Handlungsthemen seiner Romane zu folgen. Aber mehr und mehr, und vielleicht zunächst unbeabsichtigt, wurde dieses Buch auch eine Reise durch Raum und Zeit, eine Reise, bei der die alpine Landschaft mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten eine geheimnisvolle und vielschichtige Welt zum Leben erweckt: eine Welt am Ursprung von Mittelerde.

Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Interesse. Möchten Sie weiterlesen? Das Buch ist erhältlich auf: Amazon, CH: WeltbildEx LibrisOrell Füssli, DE: BeckWeltbildKulturkaufhaus etc.

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[1]        Letters of Tolkien, Nr. 306 (übersetzt).

[2]        Letters of Tolkien, Nr. 232.

[3]        Brookes-Smith (1982); siehe etwa Morton/Hayes (2008), 69 ff.; Frías Sánchez (2009); Garth (2020), 83 ff., 89 f., 102 f.

[4]        Außerdem schrieb Christopher Wiseman am 17. August 1911 einen Brief, um sich für von Tolkien gesandte Postkarten zu bedanken, siehe Scull/Hammond (2017a), 32, 34.

[5]        Siehe Lewis/Currie (2019), 48 und 166 f.

[6]        Es ist nicht davon auszugehen, dass die Gruppe gleich am Folgetag des Aufstiegs zur Bertolhütte nach England zurückkehrte; der Hinweg dauerte möglicherweise etwas länger, denn gemäß Brookes-Smith (1982), 1 verknüpften sie die Hinreise mit einer Schifffahrt auf dem Rhein.

[7]        Ähnlich Frías Sánchez (2009), 3 f.

[8]        Letters of Tolkien, Nr. 232, 306.

[9]        So nannte Tolkien den Herr der Ringe selbst in Letters of Tolkien, Nr. 33.